Aufbau, 1985. — 240 S. — (BB 575).
Eine Anekdote darf nach Ludwig Borne „nie zu Fufie gehen, sie muB sich zu Pferde setzen und im Galopp davoneilen".
F. C. Weiskopf, der fast schon klassisch zu nennende Anekdotenerzaehler unserer Zeit, nennt sie eine „pointiert vorgetragene, merkwürdige (das ist des Merkens würdige) Kurzgeschichte, die Vorgânge, Verhaltensweisen und Charaktere gewissermafien blitzartig erhellt, dergestalt, daB die Mit- und Nachwelt den Kern eines Menschen, die Quintessenz einer Situation, den Herzpunkt eines gesellschaftlichen oder historischen Zustandes praesentiert bekommt". Und er fâhrt fort, die Skala der Ausdrucksmittel, die dem Anekdotenschreiber zur Verfügung stehe, sei unbegrenzt: „Er kann ironisch oder pathetisch, heifi oder kalt sein, Mitgefühl oder Furcht oder Lachen erregen - nur Weitschweifigkeit, Lange - weile oder Verschwommenheit sind ihm verwehrt."
Etwas von dieser Vielfalt, diesern Anspruch ist in der Sammlung eingefangen worden. Ein Viertel der Anekdoten wurde eigens für diesen Band geschrieben. Die Autoren stammen meist aus dem kulturellen Bereich, leben oder lebten in unserer Republik, schrieben über Zeitgenossen und Gegenwartiges. Natürlich wird der eine dieses vermissen, der andere jenes für überflüssig halten. Etwas Merkwürdiges aber wird wohl jeder finden, Theodor Fontane sieht in der Anekdote „das Beste aller Historié": „Was tue ich mit den Betrachtungen? Die kommen von selbst, wenn die kleinen und groBen Geschichten zu mir gesprochen haben."
Sicher sind auch diese kleinen und groBen Geschichten auf ihre Art ein Spiegel unserer Zeit.